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Institutionen und Musik.Gedanken von Ständeratspräsident Andrea Caroni


Sehr geehrte Damen und Herren


Stellen Sie sich die Schweiz als Orchester vor. Die Bevölkerung spielt die erste Geige. Und auch die zweite und dritte. Die Trompeten – die Politik – versuchen die Melodie vorzugeben. Der Synthesizer – die Wissenschaft – schafft neue Klänge. Vielfältige Flöten – die Kultur – umspielen die Melodie. Das Cello, die soziale Wohlfahrt, sorgt für Wärme. Das Schlagzeug fördert mit vorwärtstreibenden Beats den wirtschaftlichen Fortschritt. Das wichtigste Instrument aber ist der Kontrabass, er entspricht unseren Institutionen.


Jedes Instrument, jede Stimme ist einzigartig und dennoch vereint in einer Symphonie der Vielfalt. Doch was passiert, wenn die Instrumente verstimmt sind oder wenn jeder taub für andere sein Solo spielt? Aus der Harmonie wird Kakophonie, aus dem Konzert ein ohrenschmerzendes Durcheinander.


Die Schweiz war nicht immer ein harmonisches Orchester. Sie war geprägt von politischer Zersplitterung und konfessionellen Gräben. Aber im Willen zu Freiheit und gemeinsamer Selbstbestimmung haben die unterschiedlichen Kantone zusammengefunden und haben die Partitur für die moderne Schweiz komponiert: mit Rechtsstaat, direkter Demokratie, Milizsystem, Föderalismus, Konkordanz. Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind bei uns mehr als nur ein Schlagworte. Sie  verkörpern die Sehnsucht nach Stabilität, einem Einklang von Tradition und Fortschritt. Während anderswo die politische Bühne zur Reality-Show oder zum Schauplatz der Gewalt verkommt, tauschen wir in der Schweiz schlicht jährlich die Regierungsfotos aus und folgen weiter einem besonnenen Andante moderato.


Doch Vorsicht: Besonnenheit darf nicht in Gleichgültigkeit umschlagen und nicht zu einem Wiegenlied werden, das uns einlullt und den Blick auf die Herausforderungen unserer Zeit verhindert. Sonst wird das Wiegenlied zum Abgesang auf uns selbst. Die Welt verändert sich rasant, und die Schweiz ist kein schalldicht abgeschotteter Konzertsaal. Digitalisierung, Globalisierung, die Fragmentierung der Öffentlichkeit und die Einflüsse von machtbesessenen Autokraten auf allen Kanälen. Das Internet als gewaltiger Resonanzkörper verstärkt den Lärm, Hass und Hetze greifen oft ungeahndet um sich. Die Gräben zwischen den Meinungslagern werden tiefer. Und hier liegt der Widerspruch: Unsere Gesellschaft wird immer heterogener, vielfältiger, bunter – ein Medley unterschiedlicher Kulturen, Sprachen, Lebensentwürfe. Gleichzeitig erleben wir eine zunehmende Polarisierung in der Politik, eine Verschärfung der Fronten, die dieser gesellschaftlichen Vielfalt diametral entgegengesetzt ist. Aus dem Orchester droht ein Ensemble von Solisten zu werden, jeder versunken in seiner eigenen Partitur, taub für die Melodien der anderen.


Wie können wir verhindern, dass unser Orchester im Chaos versinkt? Indem wir die Partitur der Bundesverfassung neu lesen. Vor genau 25 Jahren trat sie in nachgeführter Form in Kraft – eine «neue» Verfassung für ein neues Jahrhundert, die die Grundwerte alten Zusammenlebens übernahm: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus. Eine besondere Verantwortung kommt natürlich uns Politikern zu, als Leadstimmen im Monsterkonzert Schweiz. Aber nicht nur wir – ein jeder von uns trägt Verantwortung dafür, dass die Schweiz ein Land bleibt, das Freiheit, Sicherheit und Chancen für alle bietet, wie ein vielstimmiges Orchester auf der ständigen Suche nach dem Vielklang in Harmonie.


Ausschnitte der Rede von Ständeratspräsident  Andrea Caroni anlässlich des Regierungsseminars von 8. bis 9. Januar 2025 in Interlaken.

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